03.10.2018, 12:13
Um Missverständnissen vorzubeugen sprechen wir nicht vom "Abschalten" der Kameras - diese filmen 24 Stunden am Tag - sondern von "nicht besetzt". Unter der Woche ab 23.00 Uhr und am Wochenende ab 3.00 Uhr werden die Mitschnitte der Kameras nicht live mitverfolgt (sofern das System Alarm schlägt) sondern es wird lediglich aufgezeichnet. Dies dient der Strafverfolgung aber nicht unmittelbar der Verbesserung der objektiven oder subjektiven Sicherheit.
Neue Begründung: Wir haben daran erhebliche Zweifel:
- So hat die zur Begründung herangezogene Broken-Windows-Theorie weder etwas mit Videoüberwachung zu tun, noch sollte sie als Argumentationsgrundlage dienen, da sie empirisch bereits diverse Male, unter anderem von Forschern der Universität Mannheim, widerlegt wurde. Darüber hinaus liefert der Verweis auf Einzelfallbeispiele keine zuverlässigen Aussagen über reale Zusammenhänge.
- Die Videoüberwachung wird im Bereich gezielter Kriminalität wie etwa beim Drogenhandel und Diebstahl höchstwahrscheinlich zu einer Verdrängung der Kriminalität an andere Orte führen, ohne sie damit wesentlich einzuschränken. So entsteht ein Verdrängungseffekt der neue Probleme wie etwa Angsträume im Parkhausbereich an der alten Schafweide schafft.
- Delikte wie Diebstahl und Drogenhandel werden heimlich begangen und damit durch die automatisierte Videoüberwachung, die Gewalt, Gruppenbildung und Stürze anzeigen können wird, nicht erkannt. Andere Straftaten wie Raub oder Gewaltdelikte fallen an den stark frequentierten „Brennpunkten“ ohnehin sofort auf und werden schnell angezeigt. Polizeibeamte werden daher neben diesen auffälligen Straftaten vor allem die unzähligen Treffen von Familien mit Kindern, die ersten Fahrversuche kleiner radbegeisterter Mannheimer, die ambitionierten Sprünge und Stürze jugendlicher Skater oder Sprints eiliger Studierenden, Arbeitenden und Anwohnern zur Straßenbahn auf ihren Bildschirmen angezeigt bekommen. Nachts, wenn das Sicherheitsgefühl an den belebteren Plätzen abnimmt, werden sind auch die Kameras ausgeschaltet. Bildschirme der Videoüberwachung nicht besetzt und es findet kein Einschreiten durch Beamte statt.
- Dass subjektives Sicherheitsempfinden keinesfalls positiv mit der tatsächlichen Entwicklung der Kriminalität zusammenhängen muss, erleben wir derzeit auch in Mannheim. Die Kriminalitätsrate sinkt, aber das subjektive Sicherheitsempfinden steigt nicht, sondern nimmt tendenziell ab. Das bedeutet: Selbst wenn Videoüberwachung die Kriminalitätsrate an den überwachten Plätzen verringert, muss dies keine direkten Konsequenzen für das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger haben. Deren subjektive Sicherheit wird vor allem durch sichtbare Maßnahmen wie die Präsenz von Ordnungskräften gestärkt.
- Die intelligente Videoüberwachung hat weniger Bedeutung für die Abwehr von Gefahren für die Bürger oder für die Verbesserung des Sicherheitsgefühls als vielmehr für die Aufklärung von Straftaten. Diese ist aber nur dann effizient zu betreiben, wenn sie mit zusätzlichen Eingriffen in die Privatsphäre der Bürger wie etwa der Gesichtserkennung zur Identifikation von Tatverdächtigen einhergeht. Für eine wirkungsvolle Strafverfolgung, müssen darüber hinaus möglichst viele öffentliche Räume per Videotechnik überwacht werden. Das führt aber in der Konsequenz genau zu dem, was niemand wollen kann: Einer flächendeckenden polizeilichen Überwachung des öffentlichen Raumes und potenziellen Identifizierung aller Bürger im Umfeld von Videokameras, in dem angeblich verdächtiges Verhalten festgestellt wird. Diese Konsequenzen die mit der beschlossenen Installation der Videoüberwachung angestoßen werden, sind für die Bürger in keiner Weise transparent und ersichtlich gemacht.
Die Bedenken gegen eine Ausweitung der Videoüberwachung werden durch die bisherigen Erfahrungen mit der Videoüberwachung in Mannheim verstärkt. So wird der Bahnhofsvorplatz bereits seit mehreren Jahren mit Videokameras überwacht. Die Straßen- und Drogenkriminalität ist dort jedoch nicht gesunken. Sie hat somit den erhofften Effekt nicht erzielt. Wir sehen nicht, warum dies nun mit Hilfe von mehr Kameras und computerbasierter Auswertung anders sein sollte.
Unsere Argumente haben bisher kein Gehör gefunden. Einigkeit sollte aber darüber bestehen, dass ein solch teures und kontroverses Projekt mit tiefgreifenden Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte der Mannheimer Bürgerinnen und Bürger überprüfbare Zielvorgaben benötigt. Bisher hat die Stadt keinerlei Belege für eine verbesserte Bekämpfung der Straßenkriminalität durch den Einsatz von Videoüberwachung vorgelegt. Die kontrovers diskutierte Investition erfolgt basierend auf Vermutungen und vagen Annahmen. Die bisherigen Erfahrungen mit Videotechnik sprechen gegen diese Vermutungen. Wir fordern daher die Formulierung klarer Zielvorgaben für das Projekt algorithmusbasierte Videoüberwachung, das auch bundesweit Modelcharakter hat. Dies gilt sowohl hinsichtlich der angestrebten Reduzierung der Kriminalitätsrate (anhand der jährlichen Kriminalitätsstatistik), sowie hinsichtlich der prognostizierten Steigerung des Sicherheitsgefühls (anhand der Mannheimer Sicherheitsbefragung). Denn wer Projekte dieser Größenordnung und Bedeutung für die Grundrechte anstößt, sollte auch spezifizieren können, was er sich davon verspricht.
**Erstunterzeichner:**
- Humanistische Union LV Baden-Württemberg
- Selbstbestimmt.Digital. e.V.
- Grüner Ortsverband Neckarstadt
- Grüner Ortsverband Mitte
- Grüner Kreisverband Mannheim Grü
- Grüne Jugend Mannheim
- Bündnis90/Die Grüne im Gemeinderat Mannheim
Unterschriften zum Zeitpunkt der Änderung: 55 (46 in Mannheim)