17.11.2018, 11:31
Die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten stellen sicher, dass Altersrenten und Erwerbsminderungsrenten hinsichtlich des vorzeitigen Rentenbezugs grundsätzlich gleich behandelt werden. Diese Begründung ist hoch problematisch und auch fehlerhaft. Denn sie folgt der Logik, ungleiche Tatbestände gleich behandeln zu wollen. Das führt im Ergebnis zu einer massiven Benachteiligung der Erwerbsminderungsrenten.
Die (lebenslang wirkenden) Abschläge betragen wie bei der vorzeitigen Inanspruchnahme von Altersrenten 0,3 Prozent pro Monat und sind auf maximal 10,8 Prozent begrenzt. So gut wie alle Erwerbsminderungsrenten sind davon betroffen – was angesichts eines durchschnittlichen Eintrittsalters in den EM-Rentenbezug von knapp über 50 Jahren auch nicht verwundert.
Von vielen wird die Übertragung der Abschlagslogik aus dem Bereich der „normalen“ Altersrenten auf die EM-Renten völlig zu Recht als nicht systemgerecht klassifiziert.
Bei den Altersrenten wurden die Abschläge eingeführt, um die Rentenversicherung durch eine vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrenten finanziell zu kompensieren und zugleich mit der Intention, darüber eine Steuerungswirkung beim Rentenzugang im Sinne einer Abschreckung zu entfalten, da der Preis für eine vorzeitige Inanspruchnahme der Rentenleistungen nach oben getrieben wird. Ganz offensichtlich spielt hier die grundsätzlich mögliche „Wahlfreiheit“ der betroffenen Versicherten eine entscheidende Rolle.
Bei Erwerbsminderungsrenten stellt sich aber die Situation völlig anders dar. Sie haben sich den Zustand der Erwerbsminderung nicht freiwillig ausgesucht, sondern sie ist gesundheitlich bedingt – insofern kann und darf man ihre Situation nicht mit der „normaler“ Altersrenten vergleichen.
Das wäre nur dann anders, wenn man explizit oder implizit davon ausgeht, dass der Status einer Erwerbsminderung bewusst herbeigeführt wird, um in den „Genuss“ einer EM-Rente zu gelangen. Dagegen sprechen auch die Befunde aus dem Zugangsgeschehen. Von den knapp 356.000 neuen Anträgen auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) im Jahr 2016 wurden 41 Prozent abgelehnt. Die Ablehnungsquote liegt seit Jahren konstant auf diesem Niveau. Seit langem wird das Begutachtungsverfahren kritisch diskutiert, die Probleme liegen eher darin, dass auch offensichtlich kranke und faktisch erwerbsgeminderte Betroffene über einen längeren Zeitraum darum kämpfen müssen, Zugang zu dem System zu bekommen. Aber offensichtlich geht man in der Bundesregierung von dem angesprochenen Szenario aus: So heißt es in der Begründung zum Gesetzes: die Abschläge von bis zu 10,8 Prozent seien nötig. "Sie verhindern, dass die Erwerbsminderungsrente im Hinblick auf die Höhe der Abschläge als günstigere Alternative zu einer vorzeitigen Altersrente in Betracht kommt."
Dass die Abschläge bei den EM-Renten aus systematischer Sicht nicht gerechtfertigt werden können, entspringt auch dem Tatbestand, dass es bei den EM-Renten um die Absicherung des Invaliditätsrisikos geht und sich diese damit in einer anderen Konstellation bewegen als die „normalen“ Altersrenten. Dass man das trennen muss, zeigt sich auch daran, dass bei den Systemen, die zur Absenkung des Rentenniveaus benutzt wurden (also die geförderte private Alterssicherung – Riester-Rente) wie auch bei den gerade aktuell relevanten Betriebsrentensystemen eine Invaliditätsabsicherungskomponente nicht enthalten ist und ein Verweis auf eine private Absicherung dieses speziellen Risikos offensichtlich aus versicherungssystematischen Gründen für einen Großteil nicht leistbar wäre bzw. auch gar nicht angeboten wird. Insofern sind die Betroffenen existenziell auf die Leistungen aus dem System der Erwerbsminderungsrenten angewiesen.
Wer wegen Krankheit oder Behinderung seine Arbeit nicht mehr ausüben kann, hat keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns und darf deshalb nicht mit denselben Abschlägen belegt werden.
Die gesetzliche Rente ist das sicherste und beste Alterssicherungssystem. Diese Aufgabe privater Kapitalanlage zu überlassen ist extrem riskant und derzeit auch nachweislich ineffizient. Erwerbstätigenversicherung – alle zahlen ein. Wir brauchen aber auch bessere Renten für alle. Renten von denen man wirklich leben kann. Für Geringverdiener funktioniert das nur mit einer Mindestrente deutlich oberhalb der Grundsicherung. Wie man das praktisch umsetzt, zeigen uns Länder wie Österreich oder Luxemburg. Dort liegen die gesetzlichen Mindestrenten über den hierzulande gezahlten Durchschnittsrenten.