12.09.2023, 20:46
Nach wochenlangem Schweigen meldet sich BR-Kulturdirektor Björn Wilhelm zu Wort, verspricht eine „echte Kulturoffensive“ statt eines Kahlschlags, lobt: „Unsere Redaktionen sind die exzellentesten im Kulturbereich, die ich kenne“, und verkündet:
„Mehr Zeit, mehr Tiefgang, mehr Reichweite – durch neue Kultur-Sendeplätze“,
d.h. Kulturinhalte stärken und sie von den Randzeiten in die Primetime bringen.
Wir staunen und proben den FAKTENCHECK von Aussagen der BR-Spitze
„ … zehn Stunden neue, exklusive Programmfläche“,
d.h. eine „neue zweistündige Kultursendung“ werktags 14 -16 Uhr!
Fakt ist: 10 Stunden mehr, nachdem 10 Stunden gestrichen werden! Und 5 der 10 neuen Stunden gehen ans Bildungsprogramm „radioWissen“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Richtig ist: 10 minus 10 minus 5 = minus 5 Stunden Kulturprogramm.
„…mehr Aufmerksamkeit … deutlich mehr Sendezeit im Linearen …“
Ersatzlos gestrichen werden erfolgreiche Kultursendungen, mit z.T. besseren Sendezeiten wie die „kulturWelt“ (8.30 Uhr, Primetime) und die „radioTexte“; dazu: „Diwan“, „Nachtstudio“, „Kulturjournal“, „Filmkultur“ und das bisherige „Kulturleben“. Das neue „Kulturleben“ sendet von 14-16 Uhr, also bei rasant abnehmender Radionutzung, z.T. bestückt mit Beiträgen aus der Morgenstrecke. Mehr Aufmerksamkeit“? Mehr Sendezeit? Exklusiv?
„Neusprech“ à la Orwell!
Kultur zur Primetime „täglich verlässlich um halb“,
d.h. drei Beiträge während der „Morgenstecke“ um 6.30, 7.30 und 8.30 Uhr;
Häppchen anstelle von drei bis vier Beiträgen kompakt in der „kulturWelt“ um 8.30 – 9 Uhr (Primetime!) Die AG, die am Programm arbeitet, wusste davon nichts. So viel zum Thema Partizipation! Es fehlten: eine Dramaturgie, eine Stimme der Kultur im Einerlei.
„… Kulturinhalte „aus den Randzonen in die Kernzeiten …“
d.h. für „Diwan. Das Büchermagazin“ eine „siebenfache Hörerschaft“!?
Zahlenakrobatik eines Juristen! Und was heißt „Kernzeit“? Die Primetime morgens? Rezensionen in Konkurrenz zu anderen Kulturbeiträgen werktags um halb?
Und warum nicht ein Buch-Tipp täglich in der „Morgenstrecke“ wie in anderen Sendern – zusätzlich zur erfolgreichen „kulturWelt“?
„… Mehr Kulturinhalte“ im Digitalen …
Befragt nach erfolgreichen digitalen Kulturformaten, verweist Intendantin Katja Wildermuth gerne auf „Die Bergfreundinnen“ oder „Eltern ohne Filter“. Den Tagesschau-Podcast „11KM“, der eine ganz alltägliche Recherche nacherzählt, sieht sie als „investigativ“. Und Kulturdirektor Björn Wilhelm nennt im Rundfunkrat Beispiele von BR Klassik: den Igor Levit-Podcast und das ARD Nachtkonzert. Das Kulturelle Wort auf Bayern 2, ein bundesweit anerkanntes Format wie „Diwan. Das Büchermagazin“, die Lesungen „radioTexte“ kommen im Kalkül gar nicht vor.
„… mehr Präsenz im Digitalen …“!
Wo konkret und in welcher Form? Und warum nicht erfolgreiche Formate fördern?
Schon jetzt sind die „radioTexte“, im Schnitt mit 110 000 Zugriffen, bei Klassikern bis zu 200000, regelmäßig Spitzenreiter, d.h. unter den ersten 11 Plätzen, oft auf Platz 4 von ca 90 BR-Podcasts. Hörspiel und Lesungen waren Podcast-Pioniere. Beim ersten BR Podcast-Festival im Oktober 2023 in Nürnberg aber findet sich kein einziger Podcast der Kulturredaktion. In der Förderung neuer BR-Podcasts kommt die Kultur bislang nicht vor.
„Marginale Kultur ist der Jugend nicht vermittelbar“ (Stefan Maier, B2-Wellenchef)
Fakt ist: Wo die Kultur gute Sendeplätze hat, hat sie beste Einschaltquoten!
Aber selbst „Marginales“ wäre Teil des Kulturauftrags der Öffentlich-Rechtlichen.
Kultur steht an erster Stelle des neuen Medienstaatsvertrags.
„Zielgruppe: die 30 – 50jährigen“ (Kai Gniffke, SWR-Intendant und ARD-Vorsitzender)
Und was machen die 50 - 90jährigen Gebührenzahler? Wir werden alle älter!
„… keine Verflachung …“,
„niederschwellig“ sei „Quatsch“, sagt der Kulturdirektor und weiß wohl nicht, dass dieser Begriff gern vom Wellenchef in Sitzungen verwendet wird.
„Bayerns Lieblingsbücher“,
ist schon jetzt im Tagesgespräch Praxis, ein Wunschkonzert ersetzt keine Literaturkritik. Und: Keine Regionalität, die in Provinzialität führt!
„Mehr bayerische Premieren, weniger bundesweite Blockbuster“
Von neun identischen Rezensionen aus neun Sendeanstalten zu sprechen, ist Unwissen oder bewusste Irreführung, jedenfalls fern der Realität. Föderalismus auch bei überregionalen Themen ist verfassungsmäßig garantiert.
„Die Redaktion, die zuliefert“
ist künftig die Kulturredaktion. Die „exzellentesten“ Kulturredakteure werden degradiert zum Zulieferbetrieb?!
„… Ausbau der Kulturberichterstattung“ (Dr. Katja Wildermuth, Intendantin)
Kein Wort von künstlerischen Produktionen!
Kein Wort zum ARD-Mantelprogramm ab 20 Uhr. Kein Wort zum Wochenende!
"Man wird das Gefühl nicht los, dass die Verantwortlichen in den Anstalten oft nicht wissen, was für eine Qualität sie da eigentlich produzieren – und aus Unkenntnis, Rücksichtslosigkeit oder Dummheit zerschlagen sie dann, was sie haben."
(Tobias Rüther, FAS 7.8.23)