20.01.2022, 01:49
Auf Initiative der Fraktionen des Wahlbündnisses für Ilmenau (Pro Bockwurst/SPD/Ilmenau direkt, Die LINKE., BüBüGrü) und der CDU debattierten die Mitglieder des Ilmenauer Stadtrates in dessen letzter Sitzung im laufenden Jahr kurz über die Vorkommnisse rund um die "Querdenken"-Aufmärsche der letzten beiden Wochen - leider nur wenige Minuten im Tagesordnungspunkt "Berichte der Fraktionen".
In ihren Stellungnahmen machten die Fraktionsvorsitzenden der genannten Fraktionen deutlich, dass sie die mit den Aufmärschen einhergehenden Brüche des Versammlungsrechtes inklusive Missachtung der behörlichen Versammlungs-Auflösung strikt verurteilen. Selbiges gilt für das verantwortungslose Verhalten der Teilnehmenden, welche offenbar gewillt sind, ohne Masken und Abstand den Aufmarsch zu einerm Superspreader-Event zu machen. Einhellig wurde ein konsequenteres Vorgehen der Ordnungsbehörden gefordert und zur Einhaltung der geltenden Infektionsschutzverordnung aufgerufen. Auch wurde darauf hingewiesen, dass die am Aufzug beteiligten Stadträte der AfD mit ihrer Teilnahme ihren Amtseid und das geltende Recht in skandalöser Form brachen.
Diametral entgegengesetzt verhielt sich die Fraktion der AfD. Ihr Fraktionsvorsitzender bewies einmal mehr, dass auch in vielen Worten sehr wenig Sinn untergebracht werden kann. Dies offenbarte er bereits bravourös im Hauptausschuss im April diesen Jahres, als er nicht nur die Existenz des Pandemie-verursachenden Virus SARS-CoV-2 prinzipiell bestritt, sondern der Welt auch das folgende Bonmont gebildeter wissenschaftlicher Debatte schenkte: "Diese sogenannten wissenschaftlichen Fakten, was soll das überhaupt sein, wissenschaftliche Fakten? Sowas kenne ich nicht."
Offenbar gewillt, dieses Highlight seiner parlamentarischen Tätigkeit nochmals zu überbieten, übertraf er sich in seiner Stellungnahme selbst. Nicht nur solidarisierten er und seine Fraktion sich mit den wöchentlichen Ilmenauer Aufmärschen (konsequent, denn sie waren ja auch teils selbst beteiligt) und ähnlichen "Spaziergängen" europaweit, auch sprach er ihnen entgegen des geltenden Rechts jeglichen widerrechtlichen Charakter ab und stellte sie als Verteidigung der Grundrechte dar. Abschließend bereicherte er die Wissenschaft mit bislang ungehörten Kenntnissen: Auf allen "Querdenken"-Aufmärschen Europas zusammen hätten sich weniger Personen infiziert "als bei manchen 3G- oder 2G-Veranstaltungen". Schließlich sei man ja an der frischen Luft. Dies seien "einfach Fakten", welche man nicht wegdiskutieren könne. Belege, Quellenverweise? Fehlanzeige! Denn wer sich seine eigenen Fakten macht, braucht auch keine Quellen. Von Sachkenntnis ganz zu schweigen.
Leider blieben seine Einlassungen die letzten zu diesem Thema in der Stadtratssitzung und somit unwidersprochen. Dies lag in der verständlichen und prinzipiell unterstützenswerten Beschlusslage des Ältestenrates begründet, wonach die Sitzungen angesichts der gravierenden Inzidenz so kurz wie möglich zu halten sei. Es erfolgte jedoch ein Verweis in den Ältestenrat des Stadtrates, welcher sich nicht-öffentlich weitergehend mit der Angelegenheit befassen wird.
Dies war, trotz allem Verständnis für den Sinn möglichst kurzer Präsenzsitzungen, der große Fehler der Stadtratssitzung. Im digitalen Zeitalter und angesichts der diesbezüglich geänderten Tagesordnung hätten auch Möglichkeiten bestanden, die Thematik in einem offiziellen Rahmen digital und somit infektionsgeschützt, aber öffentlich weiter zu diskutieren. Dies hätte zum einen die Möglichkeit gegeben, sich intensiv öffentlich mit dem moralischen Versagen der mitmarschierenden Stadträte und Ortsteil-Bürgermeister zu beschäftigen. Zum anderen wäre es eine weitere Gelegenheit gewesen, das Geschwurbel der AfD und Unterstützenden der Aufmärsche als das zu enttarnen, was es ist: unwissenschaftliches, vollkommen kenntnisfreies Gerede pseudorebellischer Egomanen, die das eigene Empfinden und den individuellen Vorteil über alles andere, besonders über das Leben von Risikopersonen und die Gesundheit der Beschäftigten des Gesundheitssystems, stellen. Sie haben sich derart entschlossen aus der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Realität abgespaltet, dass das Herbeifantasieren eigener "Fakten" gängige, alltägliche Praxis wurde. Ein besorgniserregendes Verhalten, was dringendst auch in Ilmenau öffentlich aufgezeigt werden müsste.
Die Chance dazu wurde von Seiten des Stadtrates leider vertan. Umso wichtiger ist es nun, weiterhin dafür einzustehen, was der größte Teil der Einwohnenden Ilmenaus im Herzen trägt: Es gibt kein Recht auf eigene Fakten, schon gar nicht ohne wissenschaftlichen Diskurs. Auch gibt es kein Recht darauf, Verschwörungsmythen und Geschwurbel zu verbreiten, ohne auf entschiedenen Widerspruch zu stoßen. Diese Grundsätze müssen wir täglich neu mit Leben füllen, stets respektvoll, aber bestimmt, empathisch, aber immer mit Verweis auf die Fakten.