05.11.2013, 22:58
Wenn Politik sprachlos macht
Mütter kämpfen um Erhalt von Förderschulen – Ein Tag in der Sprachheilschule Neerstedt
Die Förderschulen sollen in die inklusive Schule überführt werden. Das halten viele Eltern für einen Fehler.
Karsten Krogmann
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Vom Aussterben bedroht? Jürgen Möhle übt mit Omar, spielerische Sprachförderung in Neerstedt.
Bild: Karsten Krogmann
Neerstedt/Hannover Emil kann jetzt „Schöne Scheiße“ sagen, das freut seine Mutter sehr. „Wir sind so froh“, sagt Claudia Wessel, 37 Jahre alt.
Emil, 8 Jahre alt, war ein Kind, das viel an den Ohren litt. Da war Wasser im Trommelfell, und so gerieten Emil immer die Laute durcheinander. Wenn die anderen Kinder „Schule“ sagten, dann sagte Emil „Dule“. Döne Deiße? Die anderen Kinder verstanden Emil nicht.
Ein Einzelfall? Na klar. In Neerstedt im Landkreis Oldenburg, einmal die Hauptstraße entlang, dann links abbiegen zum Sportplatz, gibt es derzeit 57 solcher Einzelfälle.
Da ist Erik, 8 Jahre alt. Er war zu früh auf die Welt gekommen, jahrelang war er sehr krank. Als es ihm besser ging, war er kleiner als die anderen Kinder. Zarter. Und sprachloser: Noch im Mund rutschten ihm die Wörter aus. Oft sagte Erik gar nichts.
Da ist auch Maximillian, 7 Jahre alt. Er kam mit mehreren Gen-Defekten auf die Welt, sein Körper machte ihm Schwierigkeiten, das Reden sowieso. Wenn Maximillian sprechen sollte, schrie er, manchmal stundenlang.
Und dann kam Herr Möhle.
63 Sprachförderschulen
Jürgen Möhle, groß, sportlich, 50 Jahre alt, ist Sonderpädagoge. Er sprach mit den Jungs, spielte mit ihnen, beobachtete sie – und stellte von Amts wegen sonderpädagogischen Förderbedarf fest. Emil, Erik und Maximillian kamen zu Herrn Möhle in die Sprachheilschule Neerstedt, links ab zum Sportplatz, gleich neben der Grundschule.
Das war 2012. 2013 sagt Emil „Schule“ statt „Dule“, und auch Erik und Maximillian haben „Riesen-Fortschritte“ gemacht, loben ihre Mütter. „In der Grundschule wäre Erik untergegangen“, sagt Stefanie Harms (40), die Mutter von Erik. „Max hätte da jede Klasse gesprengt“, glaubt Bianca Meyer (34), die Mutter von Maximillian.
Die Treppe hinauf, links in den Flur, die erste Tür: Das ist Klasse 1s2. „S“ steht für „Sprache“, die Buchstaben „a“ und „b“ kleben ja schon ein paar Schritte weiter an den Grundschultüren. Gezeichnete Äpfel. Gemalte Luftballons. Kinderfotos, darunter Kindernamen: Jason, Johanna, Mika, zwölf neue Namen. Jason schreibt, „ma“ und noch mal „ma“, er guckt auf, „heißt das Mama?“ Herr Möhle nickt. Zwei Jahre bleiben die Kinder bei ihm in der Sprachheilschule, „maximal drei“, sagt Möhle. „Danach sollen sie in die Regelschule.“ So mache die Förderschule das seit vielen Jahren, „mit Erfolg“.
Bloß dass es jetzt plötzlich falsch ist.
Im März 2012 beschloss der Niedersächsische Landtag das „Gesetz zur Einführung der inklusiven Schule“. Darin heißt es: „Die öffentlichen Schulen ermöglichen allen Schülerinnen und Schülern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang.“ Inklusiv – das heißt so viel wie eingeschlossen, dazugehörig.
Wer Schüler mit Förderbedarf aber in einer eigenen Schule unterrichtet, schließt sie aus. „Jede Form von Förderschule ist im Kern ein exkludierendes System“, erklärte unlängst in einem Interview die Landtagsabgeordnete Ina Korter (Grüne) aus Nordenham. In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen steht deshalb: „Die rot-grüne Koalition wird die Förderschulen im Dialog mit allen Beteiligten schrittweise in die bestehenden allgemeinen Schulen überführen.“ Für Herrn Möhle, den Leiter der Sprachheilschule Neerstedt, und die 62 anderen Sprachförderschulleiter im Land bedeutet das: Ab 2017 soll es ihre Schulen nicht mehr geben.
„Es muss doch darum gehen, das Maximum für die Kinder herauszuholen“, wundert sich Bianca Meyer, die Mutter von Maximillian: „In den Förderschulen gibt es das Material, die Fachlehrer.“
In einem kleinen Raum neben Klassenzimmer 1s2 sitzt jetzt Jürgen Möhle mit Timon, 6 Jahre alt. Er zeigt Timon ein Bild. „Ein Lennauto!“, ruft Timon. „Nein“, sagt Möhle, „das ist kein Lennauto.“
Das Auto hat einen Motor, der Motor macht ein Geräusch. Timon soll sich einen Stift nehmen und damit dem Auto nachfahren. („Den blaunen Stift?“ „Nein, den braunen.“). „R-r-r“, macht Herr Möhle vor. Timon sagt: „R-r-r.“ Das üben sie hier jeden Tag.
Ein paar Fragen.
Wilhelmshaven, Frühsommer 2012. Bei einer Lehrerfortbildung liest ein Referent aus dem Kultusministerium aus dem Schulgesetz vor: „Welche Schulform die Schülerinnen und Schüler besuchen, entscheiden die Erziehungsberechtigten.“ Der Referent ruft: „Das ist sensationell! Es kann künftig kein Kind mehr gegen den Willen der Eltern verpflichtet werden, eine Förderschule zu besuchen!“
Aber kann ein