Wer wir sind, was wir wollen
Wir sind katholische Christinnen und Christen. Wir lieben unseren Glauben und engagieren uns für ihn. Und wir sind der Überzeugung, dass unserer Gesellschaft ohne die Kirche etwas Wichti-ges fehlen würde.
Spätestens seit der großen Missbrauchsstudie wissen wir jedoch, dass grundsätzlicher Ände-rungsbedarf in der katholischen Kirche besteht. Sexueller Missbrauch, die Überwindung einer verbotsorientierten Sexualmoral, die Frage nach Macht und Machtmissbrauch in der Kirche sowie Geschlechtergerechtigkeit in der katholischen Kirche: Dies alles hängt zusammen. Unsere Glaubwürdigkeit verlangt es, dass wir uns diesen Themen stellen.
Bei 3 öffentlichen Gesprächsabenden in Reutlingen Ende 2019 haben wir über diese Themen gesprochen und nachgedacht. Die folgenden Überlegungen und formulierten Erwartungen sind das Ergebnis Abende. Wir verstehen sie als einen Beitrag zum Synodalen Weg.
Sexueller Missbrauch
Nach ersten ernstzunehmenden Berichten bereits im Jahre 2010 liegen seit September 2018 die Ergebnisse der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands vor. Uns irritiert, dass mehr als zwei Jahre danach immer noch der Eindruck herrscht, dass nicht alle deutschen Diözesen bereitwillig und transparent mit unabhängigen Stellen kooperieren, um diesen Skandal aufzuklären, aufzuarbeiten, Wiedergutmachung zu leisten und Präventionsmaß-nahmen zu ergreifen, die sexuellen Missbrauch durch Priester, Amtsträger und Vertreter der Kir-che in Zukunft verhindern.
Sexualmoral
Eine menschliche und hilfreiche Sexualmoral muss zunächst die Natürlichkeit und Vielgestaltig-keit von Sexualität wahrnehmen und anerkennen. Sie muss dem einzelnen helfen, seine Sexuali-tät zu erkennen, in seine Persönlichkeit zu integrieren und auf eine menschenfreundliche und gewaltfreie Weise zu leben.
Dies wird von der katholischen Sexualmoral, wie sie im Katechismus der Katholischen Kirche formuliert ist, nicht geleistet. Durch eine Perspektive der monastischen Keuschheit findet gelebte Sexualität nur in der Idee statt. Das führt dazu, dass im Katechismus Nr. 492 als „Hauptsünden gegen die Keuschheit“ Selbstbefriedigung und Vergewaltigung in einem Atemzug genannt wer-den, lediglich durch Kommata getrennt!
Uns irritiert, dass „homosexuelle Handlungen“ ebenfalls pauschal in dieser Reihe der „Hauptsün-den gegen die Keuschheit“ genannt wird. Dies wird humanwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gerecht, die belegen, dass sich ein homosexueller Mensch nicht aussuchen kann, ob er homose-xuell ist oder nicht. Die katholische Sexualmoral bietet bis jetzt keine Perspektive dieses gottge-schenkten Sein menschlich zu leben dürfen.
Diese angstbesetzte und drohende Verbotsmoral wurde von vielen älteren katholischen Christ*innen als destruktiv und traumatisierend erlebt und ist damit heute ein häufiger Grund für die notwendige Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung.
Wie die Wirkungsgeschichte dieses sexualfeindlichen Ansatzes zeigt, wurde verbotsorientierte, normative Sexualmoral auch als Herrschaftsmittel eingesetzt. Wenn die geforderten Normen so hoch sind, dass der einzelne sie praktisch kaum erfüllen kann, muss er sich sündig und minder-wertig fühlen. Das macht den einzelnen leichter lenkbar, ja erpressbar.
Macht und Machtmissbrauch
Macht gibt es in jedem Lebensbereich, auch in der Kirche. Vom Evangelium ist jedoch gefordert, dass diese Macht im Bewusstsein der „Armut vor Gott“ (Mt 5,3) ausgeübt wird und in Demut vor den Menschen (Mk 10,43).
Deshalb sind wir der tiefen Überzeugung, dass Evangelisierung und Fragen der Strukturreform der katholischen Kirche keine Gegensätze sind, sondern dass Umkehr und Strukturreform gerade dann unabweisbar werden, wenn wir uns ernsthaft dem Evangelium zuwenden.
Im Licht der gegenwärtigen Kirchenkrise nehmen wir mit bedrängender Klarheit wahr, dass die kirchlichen Weiheämter (Priester, Bischof) oft nicht vom Bewusstsein der Armut vor Gott und der Demut vor den Menschen getragen sind, sondern von einem Geist der Selbstsakralisierung, der geweihten Amtsträgern das Bewusstsein vermittelt, einer anderen Seinsebene anzugehören als normal getaufte Christinnen und Christen, und der ihnen Machtprivilegien und Dominanz sichert.
Geschlechtergerechtigkeit. Die Stellung von Frauen in der Kirche
Beim Thema Geschlechtergerechtigkeit geht es immer noch um die angemessene und gerechte Beteiligung von Frauen in Gesellschaft und in der katholischen Kirche.
Weil wir überzeugt sind, dass es dem Evangelium entspricht, wenn sich die katholische Kirche weltweit für die Beachtung der Menschenrechte einsetzt, empfinden wir es als einen schmerzhaf-ten Selbstwiderspruch, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Natio-nen (1948) aus kirchenrechtlichen Gründen bis heute nicht vom Vatikan unterzeichnet wurde. Dadurch kann binnenkirchlich die Frage der Geschlechtergerechtigkeit weiter verschleppt werden. Das negative Vorbild der Kirche hat weltweite Auswirkungen.